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Dienstag, 3. Dezember 2024

Was ist die Zeit? - nachgefragt

 

Prof. Dr. Gernot Münster, Institut für Theoretische Physik, WWU Münster 


Mit dieser Frage beginnt das sechste Kapitel von Thomas Manns „Der Zauberberg“:

„Was ist die Zeit? Ein Geheimnis, - wesenlos und allmächtig. Eine Bedingung der Erscheinungswelt, eine Bewegung, verkoppelt und vermengt dem Dasein der Körper im Raum und ihrer Bewegung. Wäre aber keine Zeit, wenn keine Bewegung wäre? Keine Bewegung, wenn keine Zeit? Frage nur! Ist die Zeit eine Funktion des Raumes? Oder umgekehrt? Oder sind beide identisch? Nur zu gefragt!“ Für den Physiker ist die Zeit eine fundamental wichtige Größe. Fragen wir also nach dem Wesen der Zeit! Das ist aber eher eine Frage an die Philosophen. In der Literatur finden wir sehr verschiedene Antworten. „Was ist die Zeit?“ ist nach Wittgenstein keine sinnvolle Frage. 

Kant hingegen gibt in seiner Transzendentalphilosophie eine Antwort: Bei der Zeit handelt es sich nach Kant um eine reine Form der Anschauung. „Die Zeit ist eine notwendige Vorstellung, die allen Anschauungen zum Grunde liegt. Man kann in Ansehung der Erscheinungen überhaupt die Zeit selbst nicht aufheben, ob man zwar ganz wohl die Erscheinungen aus der Zeit wegnehmen kann. Die Zeit ist also a priori gegeben. In ihr allein ist alle Wirklichkeit der Erscheinungen möglich.“ (Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Der transzendentalen Ästhetik Zweiter Abschnitt, Von der Zeit, 1781).

Naturwissenschaftler pflegen sich oft burschikoser auszudrücken. Der Physiker John A. Wheeler hat die Zeit gerne so charakterisiert, wie er es in einem Graffito in der Herrentoilette des Old Pecan Street Cafe in Austin, Texas, 1976, fand: „Time is nature's way to keep everything from happening all at once.“ (Zeit ist die Methode der Natur, zu verhindern, dass alles auf einmal passiert!) Das Phänomen Zeit führt auf eine Reihe interessanter Fragen: Hat die Zeit einen Anfang, ein Ende? Kann es „Zeitreisen“ geben? Kann sich die Zeit zyklisch zu einem Kreis schließen? Wie kommt es zu dem Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft? Welche dieser Fragen kann die Physik beantworten? 

Der Zeitpfeil Mit dem Begriff „Zeitpfeil“ ist die Tatsache gemeint, dass der Zeit eine Richtung innewohnt, durch welche sich die Vergangenheit von der Zukunft unterscheidet. Sehr schön ist das von Schiller in Worte gefasst worden: Dreifach ist der Schritt der Zeit: Zögernd kommt die Zukunft hergezogen, Pfeilschnell ist das Jetzt entflogen, Ewig still steht die Vergangenheit. Friedrich Schiller, Sprüche des Confuzius C.F. von Weizsäcker hat es in dem prägnanten Ausspruch zusammengefasst: „Die Vergangenheit ist faktisch, die Zukunft ist möglich.“ Diese Struktur der Zeit erscheint uns unauflöslich mit dem Begriff der Zeit verknüpft zu sein. 

Warum ist das so? Hierzu hat wiederum Kant eine tiefe Einsicht gehabt. In unserem Leben machen wir unablässig Erfahrungen. Erfahrung machen heißt aber, aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen. Diese Struktur der Zeit, der Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft, ist also eine notwendige Bedingung für die Möglichkeit der Erfahrung. Die Physik ist eine empirische Wissenschaft, sie gründet sich auf Erfahrung. Der Zeitpfeil ist somit Voraussetzung für Physik. Daher liegt es nahe anzunehmen, dass die Physik den Zeitpfeil nicht begründen kann. Ist das tatsächlich so? Ich denke nicht. Der Zirkel, der entsteht, wenn die Physik nach einem physikalischen Grund für den Zeitpfeil sucht, muss nicht vitiös sein. Es ist eine Frage der semantischen Konsistenz, ob die physikalische Begründung für den Zeitpfeil, ausgedrückt in der Sprache der Physik, und der Zeitpfeil als Voraussetzung für Physik zueinander passen. Ich komme weiter unten auf die physikalische Diskussion des Zeitpfeils zurück. 

Die Zeit, das Erleben der Zeit und die Messung der Zeit haben philosophische, biologische, physiologische und physikalische Aspekte, die in den unterschiedlichen Disziplinen verschieden betrachtet werden. Die subjektiv erlebte Gegenwart z.B. umfasst in der Physiologie eine Zeitspanne von 30 msec. bzw. 3 sec., während man in der Physik unter Gegenwart die scharfe Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft versteht. Im folgenden soll es um ein paar Aspekte der Zeit im Rahmen der Physik gehen. Zeit in der Physik Auf die eingangs gestellte Frage nach dem Wesen der Zeit hat Einstein geantwortet: „Zeit ist, was die Uhr anzeigt.“ Was auf den ersten Blick wie eine flapsige Antwort aussieht, ist in Wahrheit Ausdruck seines jahrelangen Ringens um die Grundlagen von Raum und Zeit. Der operationale Zugang zur Zeit, der sich in dem Zitat widerspiegelt, war der Schlüssel zur Aufstellung der Relativitätstheorie. 

Der damit verbundene Erfolg und Fortschritt im Verständnis der Zeit beruht auf einem Rückzug, einer Vereinfachung, indem im Rahmen der Physik die subjektiven Elemente ausgeblendet werden und man sich mit dem Messbaren bescheidet. Die Messung der Zeit erfolgt mit Uhren. Was ist eine Uhr? Charakteristisch für Uhren sind periodische Vorgänge, die zur Festlegung von Zeitspannen herangezogen werden. Im Laufe der Geschichte entwickelte sich die Zeitmessung von der Erddrehung über Wasseruhren und Räderuhren zu moderneren technischen Konstrukten. Ein Meilenstein war der Chronograph von John Harrison aus dem Jahr 1759. Die Entwicklung führte weiter zu den heutigen Quarzuhren und Atomuhren. Die Präzision der gegenwärtig verfügbaren Atomuhren hat Anlass zur gültigen Definition der fundamentalen Zeiteinheit über atomare Vorgänge gegeben: Eine Sekunde entspricht 9 192 632 770 Perioden der Strahlung des Überganges zwischen den beiden HyperfeinstrukturNiveaus des Grundzustandes von Atomen des Cäsiums-133. 

Lauert hier nicht wieder ein Circulus vitiosus? Ist die Definition von Zeiteinheiten über periodische Vorgänge, deren Gleichförmigkeit dabei vorausgesetzt wird, nicht zirkulär? Wäre nicht auch die alte Definition der Stunde und Sekunde über die Drehung der Erde ein ebenso brauchbarer Weg wie derjenige mittels moderner Atomuhren? Das ist jedoch nicht der Fall. Die Definition der Zeit in der Physik ist theoriegeladen. Sie hat ihre Bedeutung nicht aufgrund eines bestimmten einzelnen periodischen Vorganges, der als gleichförmig festgelegt wird, sondern innerhalb eines gesamten Systems der Naturbeschreibung, das in sich konsistent und einfach sein soll. Eine andere Definition der Zeiteinheiten als mittels der aktuell präzisesten Uhren wäre zwar logisch möglich, würde aber zu komplizierten und unpraktikablen Gesetzen der Physik führen. 

Der Zeitpfeil II Kehren wir zurück zum Zeitpfeil und seiner eventuellen physikalischen Begründung. Die fundamentalen Gesetze der Physik, welche die Teilchen und ihre Wechselwirkungen beschreiben, sind zeitlich umkehrbar. 

Die in der Natur ablaufenden Vorgänge sind dies offenbar nicht: Eine zu Boden fallende Tasse zerspringt in viele Teile, der umgekehrte Vorgang wurde noch nie beobachtet. Wie kommt das zustande? Woher rührt dieser Zeitpfeil, der wohl nicht in den fundamentalen Gesetzen der Natur angelegt ist? Bei genauerem Hinsehen kann man mehrere Zeitpfeile unterscheiden 

1. psychologisch: unsere Erinnerung richtet sich in die Vergangenheit und nicht in die Zukunft, 

2. thermodynamisch: nach dem 2. Hauptsatz nimmt die Entropie stets zu, 

3. elektrodynamisch: Strahlung breitet sich von der Quelle mit fortschreitender Zeit aus, 

4. quantentheoretisch: die Zustandsänderungen im Messprozess sind unumkehrbar, 

5. kosmologisch: das Weltall dehnt sich aus. Eine genauere Betrachtung zeigt, dass die Zeitpfeile 

1-4 miteinander zusammen hängen. Die mit ihnen verbundenen irreversiblen Vorgänge laufen aufgrund von Wahrscheinlichkeitsgesetzen ab, welche ein Fortschreiten von geordneten zu mehr ungeordneten Zuständen beschreiben. 

Dabei wächst insgesamt die Unordnung der betrachteten Systeme. In der Physik ist die Entropie ein Maß für die Unordnung eines Systems. Der Zeitpfeil lässt sich in diesem Fall darauf zurückführen, dass ein geordneter Anfangszustand (mit niedriger Entropie) vorliegt. Während die Gesetze zeitlich umkehrbar sind, führen die Anfangsbedingungen zu einer Unumkehrbarkeit von Vorgängen. Die Frage nach dem Zeitpfeil führt daher zu der Frage nach dem Ursprung des geordneten Anfangszustandes. Hierauf gibt es noch keine allgemein akzeptierte Antwort, allerdings gibt es eine plausible Hypothese, wonach der Ursprung in der Kosmologie begründet ist, und die Expansion des Weltalls als eine Art „Master-Zeitpfeil“ wirkt. 

Eine Bemerkung ist hier angebracht. Auf der Erde beobachten wir doch oft das Entstehen von geordneten Strukturen im anscheinenden Widerspruch zum Anwachsen der Unordnung (Entropie). Dieser Widerspruch ist nur scheinbar: In offenen Systemen kann die Komplexität lokal anwachsen auf Kosten der Unordnung in der Außenwelt. Die Evolution steht nicht in Konflikt mit der Thermodynamik. Relativitätstheorie Es ist nicht möglich, als Physiker über Zeit zu sprechen, ohne die Relativitätstheorie zu berücksichtigen. Begründet wurde sie in einer der fünf berühmten Arbeiten aus Einsteins Wunderjahr 1905 mit dem Titel „Zur Elektrodynamik bewegter Körper“. 

Der Titel hört sich unscheinbar an und eher recht technisch. Aber in dieser Arbeit geht es um das Wesen von Raum und Zeit. In ihr wirft Einstein Jahrtausende alte Auffassungen von Raum und Zeit über den Haufen. In der Physik vor Einstein herrschte die Vorstellung von der absoluten Zeit, die für jeden Beobachter gleichermaßen universell gültig und messbar ist. 

Bei Newton heißt es dazu in den „Philosophiae Naturalis Principia Mathematica“, 1687: „Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand.“ Schwierigkeiten in der Elektrodynamik und Optik führten Einstein zu einer Untersuchung der Grundlagen im Verständnis von Raum und Zeit. In den Jahren 1902 bis 1909 war er in Bern im Amt für geistiges Eigentum tätig. Seinem Freund Conrad Habicht schrieb er „Nach acht Dienststunden im Patentamt gibt es noch acht Stunden Allotria und noch einen Sonntag“. 

Das Ergebnis hiervon war die Relativitätstheorie, die eine radikale neue Besinnung über Raum und Zeit mit sich brachte. Ihre Konsequenzen sind die 

1. Relativität der Gleichzeitigkeit, 

2. Relativität der Zeit, 

3. Relativität von Längen. 

Ich möchte mich auf ein paar Bemerkungen zur Relativität der Zeit beschränken. Was ist darunter zu verstehen? 

Der Ablauf der Zeit, genauer gesagt der Gang von Uhren, hängt davon ab, wie sich der Beobachter und die Uhr relativ zueinander bewegen. Eine Uhr, die sich relativ zu uns mit einer gewissen Geschwindigkeit bewegt, geht langsamer als eine ruhende Uhr. 

Hält Laufen daher jung? Nun, der Effekt ist für gewöhnliche Geschwindigkeiten äußerst gering. Der Faktor, um den eine bewegte Uhr langsamer geht, beträgt für einen Radfahrer 1,00000000000000017, das entspricht 1 Sekunde in 200 Millionen Jahren. Erst bei Geschwindigkeiten, die mit der Lichtgeschwindigkeit von 299 792,458 km/sec vergleichbar sind, wird der Effekt nennenswert. Bei 90% der Lichtgeschwindigkeit beträgt der Faktor 2,3 und bei 99% der Lichtgeschwindigkeit schon 7,1. Wichtig ist, dass davon nicht nur artifizielle Uhren betroffen sind, sondern alle Vorgänge, also auch biologische. 

Es ist die Zeit selbst, deren Verstreichen relativ ist. Die Relativität der Zeit wird gerne im so genannten Zwillingsparadoxon veranschaulicht: Ein Zwilling verlässt die Erde in einem Raumschiff, welches mit hoher Geschwindigkeit ins Weltall fährt und nach ein paar Jahren wieder zurückkehrt. Während der auf der Erde verbliebene Zwilling zum Greis gealtert ist, entsteigt dem Raumschiff seine deutlich weniger gealterte Schwester. 

Zwar liegt die Realisierung dieser Geschichte weit außerhalb der heutigen Möglichkeiten, der Effekt wurde jedoch mit Hilfe von Atomuhren in Flugzeugen experimentell bestätigt. Die aus der Relativitätstheorie folgenden Effekte sind keineswegs esoterische Spinnereien der Wissenschaftler, sondern spielen in vielen Bereichen der heutigen Physik und Technik eine Rolle. Als Beispiel sei das GPS (Global Positioning System) genannt. Ohne Berücksichtigung der Relativitätstheorie würde sich in den GPS-Geräten täglich ein Fehler von 10 km aufsummieren und einige von Ihnen hätten heute den Veranstaltungsort weit verfehlt. Soviel zur Zeit aus der Sicht eines Physikers. Ich wünsche Ihnen alles Gute für die kommende Zeit.

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