"Der missbrauchte Glaube" – so
titelte der Spiegel und beklagte die "gefährliche Rückkehr der
Religionen". Kriege, Gewalt, Unterdrückung – all das wird der Religion
zugeschrieben. Die Forschung zeigt, dass die Rolle von Religion in Konflikten
ambivalent ist und viele Faktoren für ihre Wirkung eine Rolle spielen. Ein
Junge untersucht Schuhe im Oktober 2005, nach einem Bombenanschlag auf eine
schiitische Moschee in Hillah, Irak. (© picture-alliance/AP)
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Die Politisierung und Instrumentalisierung von
Religionen Das Verhältnis von Religion und Staat Bearbeitungsmöglichkeiten
politisch-religiöser Konflikte Schiiten gegen Sunniten in Syrien, Christen
gegen Muslime in der Zentralafrikanischen Republik, Buddhisten gegen Hinduisten
in Sri Lanka – Religion, so will es scheinen, stiftet auch im 21. Jahrhundert
an vielen Orten der Welt Unfrieden und Gewalt. Hat also der amerikanische
Politikwissenschaftler Samuel Huntington Recht behalten, der Mitte der 1990er
Jahre prophezeite, dass der Kalte Krieg des 20. Jahrhunderts vom Kampf der
Kulturen im 21. Jahrhundert abgelöst würde? An den Bruchlinien dieser Kulturen,
die vor allem durch eine der Weltreligionen geprägt seien, sah Huntington die
Kriege und Bürgerkriege der Zukunft aufziehen. Vor allem der Islam habe
"blutige Grenzen", schrieb Huntington (1998). Seinem Befund ist
vielfach widersprochen worden (z.B. Müller 1998; Senghaas 1998). Dennoch hält sich
die Rede vom "Kampf der Kulturen" hartnäckig. Nicht zuletzt die
Anschläge von Al-Qaida vom 11. September 2001 in den USA wurden von vielen
Beobachtern als Bestätigung aufgefasst.
Huntingtons Analyse beruht auf der
Differenzthese: Wenn sich Angehörige unterschiedlicher Religionen
gegenüberstehen, die jeweils Anspruch auf die absolute Wahrheit ihres Glaubens erheben,
seien gewaltsame Konflikte unvermeidlich. Die These zeugt von Ignoranz
gegenüber vielen historischen und aktuellen Beispielen religiöser Koexistenz,
die vom mittelalterlichen Andalusien über das indische Mogulreich im 16. und
17. Jahrhundert bis hin zu den religiös diversen Gesellschaften der Gegenwart
reichen.
Die Differenzthese in dieser Einfachheit wurde
auch durch die aktuelle Forschung widerlegt. Ihr Befund ist eindeutig: Das
bloße Aufeinandertreffen verschiedener Religionen, ihrer Glaubensgrundsätze und
Praktiken, ist so gut wie nie die Ursache von Gewaltkonflikten. Auslöser von
Bürgerkriegen sind meist Kämpfe um politische Macht sowie um natürliche und ökonomische
Ressourcen im Kontext institutionell schwach ausgebildeter Staatlichkeit. Religion
bzw. religiöse Differenzen sind allein keine hinreichende Ursache für das Aufflammen
von Konflikten und Gewalt; sie können aber – ganz ähnlich wie unterschiedliche
ethnische Zugehörigkeiten – in Wechselwirkung mit anderen Faktoren zur
Verschärfung von Konflikten beitragen.
Die Politisierung und Instrumentalisierung von
Religionen
Die politikwissenschaftliche Forschung hat eine
Reihe von plausiblen Erklärungen für die konfliktverschärfende Wirkung von
Religionen hervorgebracht. Obwohl religiöse Differenzen allein keine
hinreichende Ursache für das Aufflammen von Konflikten und Gewalt darstellen, so
ist die demographische Verteilung religiöser Zugehörigkeiten – beispielsweise
die Polarisierung zwischen zwei religiös definierten Gruppen oder die Dominanz
einer Gruppe – doch eine Voraussetzung für eine mögliche Politisierung von
Religion (Montalvo/Reynal-Querol 2005). Besonders virulent werden solche
demographischen Strukturen, wenn sie mit ethnischen Identitäten (Basedau et al.
2011), ökonomischen Unterschieden oder
nationalistischen Bewegungen verquickt sind
(Juergensmeyer 1993).
Der von der konstruktivistischen Friedens- und
Konfliktforschung in den Vordergrund gerückte Begriff der Identität ist dabei
von zentraler Bedeutung: Die religiöse Zugehörigkeit stellt eines der
wichtigsten Unterscheidungsmerkmale bei der Konstruktion kollektiver
Identitäten dar. Anhand ihrer Religion nehmen Gruppen ihre Selbstbeschreibung,
aber auch ihre Abgrenzung zu anderen Gruppen vor (vgl. den Überblick bei
Choijnacki/Namberger 2013). Der "richtige" Glauben wird zu Bedingung
der Zugehörigkeit zur Gruppe. Abweichler werden ausgegrenzt.
Nach außen wird die religiöse Differenz zu
einer zentralen Erklärung für die Andersartigkeit des "Feindes".
Solche "in-group/out-group"-Mechanismen sind konstitutiv für das Konfliktgeschehen,
weil sie erst die Kollektive hervorbringen, die dann einander feindlich gegenüberstehen.
Es bedarf jedoch immer des absichtsvollen
Handelns sozialer, politischer und intellektueller Führer, um die
konfliktverschärfende Wirkung von Religion hervorzurufen. Darauf machen die Studien
von De Juan und Hasenclever (2009; 2015) aufmerksam, die die entscheidende Rolle
von politischen Eliten hervorheben. Mithilfe des Framing-Ansatzes zeigen die
Autoren, wie Eliten religiös aufgeladene diskursive Rahmungen (engl. frames)
entwerfen, die Gewalt legitimieren und die Gläubigen zur Gewaltanwendung
mobilisieren sollen. Inwieweit dies gelingt, hängt von einer Reihe von Faktoren
ab – beispielsweise von der Kohärenz der Frames und von der Autorität der
Eliten, die sie einsetzen, um ihre eigenen Ziele im Konflikt zu erreichen.
Religiöse Ideen, Überzeugungen und Normen sind
also bedeutsam, um Gewalt zu rechtfertigen und die gläubigen Anhänger
aufzuwiegeln. Aber es gibt keine einfache
Gleichung, die die Instrumentalisierung
religiöser Dogmen und Traditionen für die Anstachelung zu gewaltsamen Handlungen
in Konflikten der Gegenwart erklären kann. Vielmehr sind Religionen nach Appleby
(2000) "ambivalent": Sie beinhalten sowohl ethische Prinzipien,
Normen und Narrative, die zu Frieden und Versöhnung aufrufen, als auch Inhalte
und Deutungen, mit denen sich Gewalt und Krieg rechtfertigen lassen.
Gewalt als mögliche Handlungsoption erscheint
vor allem dann gerechtfertigt, wenn die religiöse Gemeinschaft gegenüber ihrer
sozialen und politischen Umwelt in die Defensive gerät und sich bedroht fühlt.
Dann wird jeder Angriff auf religiöse Regeln und Traditionen und jede Herabsetzung
religiöser Symbole als Angriff auf das eigene Leben der Mitglieder und die
gesamte Gemeinschaft empfunden. Die Kopenhagener Schule spricht von der
"Versicherheitlichung" von Religion. Angesichts der von den
politischen und religiösen Führern beschworenen Gefahr für Sicherheit und Überleben
wechselt die Gemeinschaft von der Routine in den Ausnahmezustand, in dem auch außergewöhnliche
Handlungen, wie Hass und Gewalt, als legitim erscheinen (Laustsen/Waever 2003).
Das Verhältnis von Religion und Staat
Welche Handlungsmodelle aus der religiösen
Tradition und Praxis gewählt werden, hängt von der historischen Entwicklung des
Verhältnisses der religiösen Gemeinschaft zu den politischen Herrschenden ab.
Nach Philpott (2007) bewegt sich das Verhältnis von Staat und Religion zwischen
zwei Polen: der vollständigen Integration von Staat und Religion auf der einen
Seite und der institutionellen Eigenständigkeit beider Sphären auf der anderen
Seite. Je nachdem, wie eng Staat und Religion miteinander verquickt sind,
steigt laut Philpott die Wahrscheinlichkeit
entweder für Gewalt oder für Demokratisierung.
Eine integrationistische politische Theologie, die nach politischer Macht
strebt und andere Religionen unterdrückt, erleichtert die Rechtfertigung von Gewalt
erheblich.
So zwang im Sudan der autoritäre islamistische
Staat dem christlichen Süden seine religiöseGesetzgebung (Scharia) auf, was zu
einem brutalen Bürgerkrieg führte. Auch können religiös fanatische
nicht-staatliche Gewaltakteure versuchen, einen Staat zu übernehmen bzw. sich einen
eigenen Staat zu schaffen, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Die erste
Variante ist gerade in zahlreichen Bürgerkriegsländern zu beobachten – z.B. in
Jemen, Mali, Nigeria, Philippinen. Die zweite Variante wird besonders konsequent
und brutal vom selbsternannten Islamischen Staat in Syrien und im Irak
praktiziert.
Bearbeitungsmöglichkeiten politisch-religiöser
Konflikte Gibt es Wege, solche religiös aufgeladenen Konflikte zu bearbeiten?
Entscheidend ist eine aktive Zivilgesellschaft. Ob die Hass und Gewalt
schürende Propaganda verfängt, hat mit der Offenheit des Diskurses und der
Pluralität der Gesellschaft zu tun. Wenn effektive Gegendiskurse existieren und
von einflussreichen sozialen bzw. politischen Kräften vertreten werden,
schwinden die Chancen religiös-fundamentalistischer Führer, sich durchzusetzen.
Hasenclever und De Juan (2007) identifizieren
vier Ansatzpunkte, um der Instrumentalisierung von Religionen zur
Rechtfertigung von Gewalt und Krieg vorzubeugen:
Religiöse Aufklärung, d.h. eine breite
Interpretation der religiösen Tradition, die die innere Vielfalt und
Komplexität achtet und so dem selektiven Herausgreifen exkludierender, gewaltlegitimierender
Aussagen entgegenwirkt. Strukturelle Toleranz, d.h. die Stärkung und
Verfestigung moderater und differenzierter Interpretationsweisen in
Institutionen und Diskursen, z.B. an religiösen Schulen, in der theologischen
Ausbildung und in Gemeindestrukturen.
Autonomiepotenzial, d.h. die Gewährleistung der
Unabhängigkeit religiöser Gemeinschaften vom Staat, die es ihnen erlaubt, der
Vereinnahmung durch die politische Macht zu widerstehen. Eine lebendige
innerreligiöse Öffentlichkeit, die der Abschottung radikaler Gruppen und Interpretationsweisen
den Austausch auf lokaler, nationaler und transnationaler Ebene entgegensetzt
(Hasenclever/De Juan 2007).
Deutlich wird, dass eine solche Prophylaxe eine
hinreichend lange Zeit vor dem Ausbruch eines Konflikts einsetzen muss, um eine
Gewalteskalation zu verhindern. Dies gilt auch für Ansätze, die auf den
interreligiösen Dialog setzen (Smock 2006). Sie bedürfen eines langen Atems,
und sie erreichen in der Regel nur jene Gläubigen, die bereits ein Mindestmaß
an Offenheit für den Austausch mit Andersdenkenden aufbringen, nicht aber
radikalisierte Kämpfer.
Für die Bearbeitung von Konflikten, in denen
Religion eine Rolle spielt, wird es paradoxerweise vielmehr darauf ankommen,
die religiöse Dimension gerade nicht hervorzuheben. Wie die Erklärungen für die
konfliktverschärfende Wirkung von Religion überwiegend zeigen, kommt diese erst
dann zum Tragen, wenn bereits Konflikte um politische und ökonomische Macht schwelen.
Angefacht werden diese Konflikte nicht zuletzt von politischen Eliten, die sich
politische oder ökonomische Gewinne versprechen, und die religiöse Identitäten
gezielt instrumentalisieren.
Wenn Gewaltkonflikte, wie in Syrien oder Irak,
dann auch noch von der Außenwelt auf religiöse Differenzen reduziert werden,
verschärft das die Gegensätze zwischen den religiösen Gruppen und blendet die
ökonomischen und politischen Ursachen aus (Hurd 2015). In diese Falle der Vereinfachung
sollten Staaten und internationale Organisationen, die sich in der Konfliktbearbeitung
engagieren, auf keinen Fall tappen. Sie sollten vielmehr die Breite und Komplexität
der Ursachen in den Blick nehmen, ohne die religiöse Dimension auszublenden.
Claudia Baumgart-Ochse
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