Translate

Dienstag, 28. April 2020

Die Urerfahrung mit der Zeit



Das Wort Zeit bezeichnet in der Philosophie die vom menschlichen Bewusstsein wahrgenommene Form der Veränderungen oder der Abfolge von Ereignissen. Diese Veränderungen begründen den Eindruck einer „Richtung der Zeit“. Bestimmungen des Wesens der Zeit wurden von Philosophen wie etwa Platon, Aristoteles, Augustinus, Leibniz, Kant oder Bergson in unterschiedlicher Weise vorgenommen.

Unsere Alltagserfahrung lässt uns vermuten, dass Zeit auch unabhängig von bewusst wahrgenommenen Objekten und ihrer Veränderlichkeit existiert. Das Problem der Zeitvorstellung war deshalb schon immer mit der Frage verknüpft, ob sie erst durch eine spezielle Anschauung im menschlichen Bewusstsein 'erschaffen' wird oder unabhängig davon objektiv gegeben ist. Die Beantwortung dieser Frage war jahrtausendelang ausschließlich eine Angelegenheit der Philosophie, Theologie und Mystik. Wichtige Erkenntnisse dazu erbringen mittlerweile aber auch die Physik, Astronomie, Neurologie, Chronopsychologie, Chronobiologie und andere Wissenschaften.
Die Frage nach der Existenz der Zeit ist allerdings selbst schon problematisch, denn es ist schwierig anzugeben, was der Existenz-Begriff in Bezug auf die Zeit bedeuten soll. Neuere Erkenntnisse der Hirnforschung, Molekularbiologie und Psychologie legen den Schluss nahe, dass Wahrnehmung, Gedankenprozesse, Erinnerungen, Zeitgefühl und Bewusstsein im Menschen so eng miteinander verknüpft sind, dass sie im Erleben normalerweise nicht getrennt werden können. Zeitgefühl, Gedanken und das menschliche Bewusstsein erscheinen also nur gemeinsam. In einer subjektivistischen Auffassung würden denn Zeit und Zeitgefühl eng zusammenrücken. Die Vorstellung einer objektiven Zeit wäre hier dann nur die Vorstellung einer Identität, die auf Erinnerungen basiert und nach Sicherheit und Kontinuität strebt.
Die ersten systematischen Gedanken über die Zeit sind uns von Platon überliefert. Für ihn sind nur die ewigen Ideen das eigentlich Seiende (Ideenlehre). Die Formen, die uns in Raum und Zeit erscheinen, sind dagegen nur bewegte Abbilder davon. Er verschiebt damit die Frage nach der Zeit auf die Frage nach dem Sein. Zeit ist bei ihm nur noch ein Ausdruck, ein Abbild der Ewigkeit, des ewigen Seins.
Für Aristoteles ist der Zeitbegriff untrennbar an Veränderungen gebunden. Veränderungen geschehen in der Zeit, aber von der Zeit selbst gilt das nicht. Sie selbst ist keine Bewegung, sondern das Maß jeder Bewegung. „Wir messen nicht nur die Bewegung mittels der Zeit, sondern auch mittels der Bewegung die Zeit und können dies, weil sich beide wechselseitig bestimmen“ (Phys. IV 12, 220b 14–16). Er geht aber nicht soweit, die Zeit auf eine reine Maßeinheit im modernen Sinn zu reduzieren. So war Aristoteles der Auffassung, dass sich die Zeit in unendlich viele Zeitintervalle einteilen lässt. Damit hat er die Vorstellung eines Kontinuums von Raum und Zeit vertreten. Obwohl es heutzutage Überlegungen in Richtung einer diskreten Struktur der Zeit gibt, werden diese Kontinuumstheorien bis heute der Physik zugrunde gelegt.
Nach AugustinusConfessiones sind Vergangenheit und Zukunft nur Erinnerungen bzw. Erwartungen in der Gegenwart. Wir könnten das Ewige nur in der Erscheinungsform des Nacheinander erfassen. Wie bei Aristoteles ist bei Augustinus Zeit (und Raum) untrennbar von der Welt und den Veränderungen, sie „entstand“ erst durch die Schöpfung, d. h. Gottes Erschaffung der Welt. Die Zeit (und der Raum) existiert insbesondere im geschöpflichen, d. h. vor allem im menschlichen Bewusstsein. Für Gott ist dagegen alles eine Gegenwart. Bei Augustinus erfolgt auch erstmals eine Unterscheidung zwischen einer physikalisch exakten Zeit, die mit Hilfe von Zeitmessgeräten bestimmt wird, und einer psychologisch-erlebnisbezogenen Zeit, die Zugang zu subjektiven und alltäglichen Interpretationen findet.
Für Isaac Newton bilden die Zeit und der Raum die „Behälter“ für Ereignisse, sie sind für ihn ebenso real und mit Eigenschaften ausgezeichnet wie die Objekte. Er definierte die Zeit mit den Worten: „Zeit ist, und sie tickt gleichmäßig von Moment zu Moment.“ Im Gegensatz dazu hat Leibniz behauptet, dass Zeit und Raum nur gedankliche Konstruktionen sind, um die Beziehungen zwischen Ereignissen zu beschreiben. Aus seiner Sicht gibt es damit kein „Wesen“ und keinen Fluss der Zeit. Er definiert die Zeit so: „Die Zeit ist die Ordnung des nicht zugleich Existierenden. Sie ist somit die allgemeine Ordnung der Veränderungen, in der nämlich nicht auf die bestimmte Art der Veränderungen gesehen wird.“.
Innerhalb der Wissenschaft hat sich Newtons Auffassung durchgesetzt. Der große Vorteil davon ist die Möglichkeit, Zeit und Raum unabhängig von einem realen Bezugspunkt und ohne konkreten Beobachter beschreiben zu können. Ernst Mach hat den idealisierten Modellcharakter einer solchen Abstraktion kritisiert und gefolgert, dass alle Dinge und Prozesse nur voneinander abhängig sind und nicht von einer „transzendenten“ Zeit. Für die moderne Physik ist die Krümmung des Objektes „Raumzeit“ nicht verschieden von Eigenschaften wie Masse oder Ausdehnung eines beliebigen anderen Objektes.
Für Immanuel Kant ist die Zeit ebenso wie der Raum eine „reine Anschauungsform“ und zwar die des inneren Sinnes. Sie ist unser Zugang zur Welt, gehört also zu den subjektiv-menschlichen Bedingungen der Welterkenntnis und ist somit die besondere Form, die das menschliche Bewusstsein den Sinneseindrücken verleiht. Wir können uns aus unserer Erfahrung die Zeit nicht wegdenken, da sie eben selbst eine Art und Weise unserer Anschauung (Wahrnehmung) ist. Zwar kommt sie nicht einer – wie auch immer gearteten – Welt an sich zu, dennoch wird der Zeit eine empirische Qualität zugeschrieben. So werden Zeitmessungen benutzt, um zu quantifizieren, wie weit entfernt Ereignisse voneinander stattfinden.
Søren Kierkegaards Beschäftigung mit dem Augenblick wurde ein in der Philosophie einflussreiches Konzept.
In seinem Hauptwerk „Sein und Zeit“ betrachtet Martin Heidegger die Zeitlichkeit als die zutiefst das Menschsein prägende Wirklichkeit. Die menschliche Existenz, das Dasein wird von Heidegger verstanden als faktisches Schon-sein-in der Welt, das durch seine Ausrichtung auf die Zukunft (Sich-vorweg-Sein) im Ergreifen der eigenen Möglichkeiten sein eigenes Seinkönnen bestimmt. Die Stimmung der Angst erschließt dem Menschen sein In-der-Welt-sein: der Mensch kommt ohne sein eigenes Hinzutun in die Existenz und hat diese nun zu übernehmen, indem er Entscheidungen trifft. Das Ende alles Ergreifens von Möglichkeiten stellt der Tod dar. Angesichts des Todes ergibt sich für den Menschen ein endlicher Entscheidungsspielraum. Es ist daher für Heidegger die Zeitlichkeit des konkreten Daseins, das in seiner Existenz für sich und andere sorgt und aus welcher sich erst die rechnerische Zeit ergibt. Dasein rechnet mit Zeit, weil es in seiner eigenen Endlichkeit für sich Sorge zu tragen hat. Zu einer wirklichen Ausarbeitung des Begriffs der Zeit aus der Zeitlichkeit des Daseins kommt es jedoch in dem Fragment gebliebenen Werk „Sein und Zeit“ nicht mehr.
Die neuere Philosophie geht inzwischen von einer Unterscheidung absoluter Zeit-Bestimmungen (sog. A-Reihe, z. B. vergangen, gegenwärtig, zukünftig), wie bei Augustinus, und relativer Zeit-Bestimmungen (sog. B-Reihe, z. B. früher als, gleichzeitig, später als), wie bei Kant und den modernen Naturwissenschaften, aus. Aufbauend auf diesen Zeitreihen hat John McTaggart die Unwirklichkeit der Zeit gelehrt. Seine Ausführungen sollen zeigen, dass jede Veränderung als eine Bewegung von Ereignissen von der Zukunft zur Gegenwart in die Vergangenheit beschrieben werden kann. Diese Veränderungen seien aber weder Teil der Ereignisse, noch eine Relation zwischen ihnen. Er kommt zu dem Schluss, dass auch die Zeitreihen selbst, in denen die Veränderungen stattfinden, nicht existieren.
Nachdem mit Hilfe der Philosophie der Sprache Argumente dafür geliefert wurden, dass Begriffe der einen Zeitreihe nicht in Begriffe der anderen übersetzt werden können, gibt es demnach drei mögliche Versionen für die Begründung der B-Reihe (tenseless theory; beinhaltet keine indexikalische Zeitbestimmung): eine zeichenanalytische (token-reflexive), eine Version auf Basis der Zeitpunkte (date version) und eine neuere Version der Satztypen (sentence-type)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts