Translate

Samstag, 9. November 2024

Philosophie der Virtualität - Simulationstheorie




In seinen frühen Jahren war Baudrillard ein vergleichsweise typischer ‚linker französischer Intellektueller‘, der in Jean-Paul Sartres Zeitschrift Les temps modernes mitarbeitete und von Denkern wie seinem marxistischen Doktorvater Henri Lefebvre und den linksradikalen Situationisten beeinflusst wurde, aber auch durch Strukturalisten wie Roland Barthes und ethnologisch beeinflusste Soziologen wie Marcel Mauss und Georges Bataille.

Schon seine ersten Bücher befassen sich mit Kulturtheorie, Ökonomie und Sprachkritik, oft mit Bezügen zur aktuellen, gesellschaftlichen Situation und provokanten oder zugespitzten Thesen als thematische Anknüpfungspunkte. Damit bewegte er sich im Umfeld sozialistischer Theorien, erweiterte diese jedoch durch ausgiebige Analysen der kulturellen Sphäre und der Konsumgesellschaft, sowie durch den Versuch einer Verknüpfung von Materialismus und Strukturalismus, in dessen Zuge er Marx’ Kritik der politischen Ökonomie zeichentheoretisch interpretiert.

Um 1975 wendet er sich, beeinflusst durch die ethnologischen Studien von Marcel Mauss zum Gabentausch und von Bataille zur Verschwendung bzw. zum Potlatsch, dem Thema des „symbolischen Tausches“ zu. Fortan spielt der symbolische Tausch für Baudrillard die doppelte Rolle eines Gegenprinzips sowohl zur politischen Ökonomie des Kapitalismus wie auch zum marxistischen Paradigma der Produktion, dessen Verhaftung im kapitalistischen Denken er in Le miroir de la production (1975) vehement kritisiert.

In Der symbolische Tausch und der Tod (1976) setzt Baudrillard diesen ethnologisch geprägten Ansatz fort, indem er die Todesriten außereuropäischer Kulturen mit der „Verdrängung des Todes“ in der westlichen Kultur vergleicht und dabei ein Verschwinden des symbolischen Tausches mit dem Tod konstatiert.

Später gab es thematische Überschneidungen zum Schaffen des US-amerikanischen Soziologen Richard Sennett.

Simulationstheorie

Der symbolische Tausch und der Tod enthält auch eine erste systematische Fassung seiner Simulationstheorie. Baudrillard unterscheidet drei Zeitalter des Zeichens bzw. „drei Ordnungen des Simulakrums“: Nach dem Zeitalter der „Imitation“ und demjenigen der „Produktion“ leben wir heute im Zeitalter der „Simulation“ – einem gesellschaftlichen Zustand, in dem Zeichen und Wirklichkeit zunehmend ununterscheidbar werden. Die Zeichen, so Baudrillard, haben sich von ihrem Bezeichneten gelöst und seien „referenzlos“ geworden. Die Zeichencodes der modernen Städte, der Werbung und der Medien gäben nur noch vor, entschlüsselbare Botschaften zu sein. In Wahrheit dagegen seien sie reiner Selbstzweck, mit dem das Gesamtsystem der Gesellschaft aufrechterhalten wird, damit „jeder an seinem Platz bleibt“. Die Zeichen „simulieren“ eine künstliche Realität als Hyperrealität, anstatt eine wirkliche Welt abzubilden.

Vorformen und Andeutungen dieser Idee hatte Baudrillard bereits in seinen vorherigen Schriften formuliert: In das System der Dinge untersuchte er die Zeichenfunktion von Gebrauchsgegenständen, die längst wichtiger geworden sei als ihre technische Funktion. Konsumgüter existierten nicht primär als Gegenstände des Gebrauchs, sondern sie würden in ihrer ideellen Dimension als Zeichen für einen bestimmten Lebensstil konsumiert. Der Konsum, so schloss Baudrillard damals, sei eine absolut idealistische Praxis. Deren Sinn sei Substitution, die als praktizierter Hedonismus und Alternative zur Aufgabe individueller Wünsche genutzt werden könnte. Aber erst seit Der symbolische Tausch und der Tod, sowie in zahlreichen darauf folgenden kleineren Schriften, z.B. der "Transparenz des Bösen", wird das Konzept der Simulation zentral.

Die Entwicklung hin zur Simulation, die er auch als „strukturale Revolution des Werts“ bezeichnet, spiele sich parallel zu den Zeichen der Massenmedien auch im Bereich der Ökonomie ab. Dort entspreche ihr die Verselbständigung der Konsumtion auf Kosten der Produktion,oder die Verselbständigung des Tauschwerts auf Kosten des Gebrauchswerts.]Baudrillard entwickelt somit, auch mit Bezug auf Ferdinand de Saussure und mit einer historisch-kritischen Analyse verschiedener Kulturstufen, eine Kritik der Marxschen ökonomischen Theorien von außerhalb der Ökonomie.

Medientheorie

Auch die medientheoretische Stoßrichtung der Simulationstheorie, die vor allem auf Massenmedien wie das Fernsehen gemünzt ist, hatte Baudrillard bereits in einer früheren Schrift, Requiem für die Medien (1972), vorgedacht. Darin wendet er sich unter anderem gegen die zeitgenössische Kritik der Medien als Instrument der Manipulation. Stattdessen entwickelt er sein Konzept der „Simulation“ als Alternative zu den klassischen Manipulationsmodellen. In Requiem für die Medien zeichnet Baudrillard ein kritisches Bild der Massenmedien, deren Apparaturen dazu dienten, Kommunikationsprozesse hierarchisch zu vereinseitigen, anstatt sie zu befördern: „... die Medien sind dasjenige, welches die Antwort für immer versagt, das, was jeden Tauschprozess verunmöglicht, es sei denn in Form der Simulation einer Antwort, die selbst in den Sendeprozess integriert ist.“

Anknüpfend an Marshall McLuhans Werk The Medium is the Massage („Das Medium ist die Massage“) betont Baudrillard gegen Hans Magnus Enzensberger und dessen Aufsatz Baukasten zu einer Theorie der Medien (1970) gerichtet, dass es unmöglich sei, Massenmedien kritisch zu verwenden. Baudrillard spricht in diesem Zusammenhang von einer medialen „Rede ohne Antwort“, durch welche die eigene Tätigkeit der Konsumenten behindert würde.

Terrorismus

In den 1980er und 1990er Jahren beherrschen Reflexionen über das scheinbare „Ende der Geschichte“ und das Verschwinden des Ereignisses hinter der Simulation das Denken Baudrillards (Das Jahr 2000 findet nicht statt, 1984; Die Illusion des Endes oder Der Streik der Ereignisse, 1992). Selbst der Krieg sei – als Ereignis und konfrontative Herausforderung – "verschwunden", wie Baudrillard in seinen kontrovers aufgenommenen Analysen zum Golfkrieg 1991 folgert.

Eine Reaktion gegen die Gleichgültigkeit der Simulation sieht er jedoch im Terrorismus, den er bereits in den 1970er Jahren anlässlich der Selbstmorde von Stammheim untersucht hatte. In den Anschlägen vom 11. September 2001 schließlich erblickt er einen Verweis auf das Ereignis als solches, einen Versuch, durch das "reine Ereignis" den Zirkel der Simulation zu durchbrechen, indem es dem System die „symbolische Gabe des Todes vergelte und es damit selbst – der Logik des Gabentauschs folgend – zu einer Art Selbstmord zwinge: „Die terroristische Hypothese heißt, dass sich das System in Beantwortung der vielfachen Herausforderung des Todes und des Selbstmordes selbst umbringt.“

In seinen Analysen der Terroranschläge betont Baudrillard zugleich aber auch, dass der Terrorismus „keine zeitgenössische Form der Revolution gegen Unterdrückung und Kapitalismus“ darstelle und nicht zu rechtfertigen sei.In einem Interview mit dem Spiegel analysiert er den Terrorismus außerdem als fatale, unausweichliche Reaktion auf das Machtungleichgewicht der Globalisierung. Den dadurch losgetretenen Konflikt bezeichnet er als „Vierten Weltkrieg“ – einen Krieg „der Gattung Mensch mit sich selbst“, der im Unterschied zum „Dritten Weltkrieg“, dem Kalten Krieg, ein entgrenzter, asymmetrischer und unkontrollierbarer Krieg sei, der nicht mehr eindeutig gewonnen werden kann.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts