Als Kardinaltugenden
(von lateinisch cardo „Türangel, Dreh- und
Angelpunkt“; auch Primärtugend) bezeichnet man seit der Antike eine Gruppe von vier Grundtugenden. Diese waren anfangs nicht bei allen
Autoren dieselben. Eine Vierergruppe ist bereits im Griechenland des 5.
Jahrhunderts v. Chr. belegt und war wohl schon früher bekannt; die
Bezeichnung „Kardinaltugenden“ wurde in der spätantiken Patristik durch den Kirchenvater Ambrosius von Mailand
im 4. Jahrhundert erstmals verwendet.
Antike
Die Gruppe
von vier Haupttugenden ist erstmals bei dem griechischen Dichter Aischylos belegt, in seinem 467 v. Chr.
entstandenen Stück Sieben gegen Theben
(Vers 610). Er scheint sie als bekannt vorauszusetzen; daher wird vermutet,
dass sie schon im griechischen Adel des 6. Jahrhunderts v. Chr. geläufig
waren. Aischylos charakterisiert den Seher Amphiaraos als tugendhaften Menschen, indem er
ihn als
- verständig (sóphron),
- gerecht (díkaios),
- fromm (eusebés) und
- tapfer (agathós) bezeichnet.
Der Begriff agathós
(„gut“) ist hier, wie in vielen Inschriften, im Sinne von „tapfer“ (andreios)
zu verstehen.
Platon übernahm in seinen Dialogen Politeia und Nomoi
die Idee der Vierergruppe. Er behielt die Tapferkeit (bei ihm ανδρεία, andreia), die
Gerechtigkeit (δικαιοσύνη, dikaiosýne) und
die Besonnenheit (σωφροσύνη, sophrosýne) bei,
ersetzte aber die Frömmigkeit (εὐσέβεια, eusébeia) durch Klugheit (φρόνησις, phrónesis) oder Weisheit (σοφία, sophía). Dadurch wurde
die Frömmigkeit aus dem Tugendkatalog verdrängt. Noch Platons Zeitgenosse Xenophon, der wie Platon ein Schüler des Sokrates war, schrieb Sokrates einen Kanon von
nur zwei Tugenden zu, nämlich Frömmigkeit (die die Beziehungen zwischen
Menschen und Göttern bestimmt) und Gerechtigkeit (die für die Beziehungen der
Menschen untereinander maßgeblich ist).
Platon
ordnet jedem der drei von ihm angenommenen Seelenteile
und jedem der drei Stände in seiner Konzeption einer idealen
Gesellschaftsordnung (πολιτεία, politeía) eine Tugend zu, nämlich dem obersten
Seelenteil bzw. Stand die Weisheit, dem zweitrangigen die Tapferkeit und dem
niedersten die Verständigkeit oder Fähigkeit des Maßhaltens. Die Gerechtigkeit ist allen drei
zugewiesen, sie sorgt für das rechte Zusammenwirken der Teile des Ganzen.
Nicht nur
die Angehörigen der von Platon gegründeten Akademie,
sondern auch die Stoiker übernahmen den Kanon der vier Tugenden;
wohl aus stoischem Schrifttum gelangte die Vierergruppe auch in die rhetorischen Handbücher. Daher waren die Gebildeten
der hellenistischen und römischen Welt mit ihr
vertraut.
Auch im
Judentum wurden dieselben vier Haupttugenden gelehrt; sie erscheinen zweimal in
der Septuaginta (der griechischen Übersetzung des Tanach), nämlich im Buch der Weisheit (8.7) und im 4. Buch der
Makkabäer (1.18). Der jüdische Philosoph Philon von Alexandria
befasste sich ebenfalls damit; er deutete die vier Flüsse des Paradieses allegorisch als die vier Tugenden.
Marcus Tullius Cicero,
der sich hier auf ein nicht erhaltenes Werk des Stoikers
Panaitios
stützte, vertrat die Lehre von den vier Haupttugenden. Er machte die römische
Welt mit ihr vertraut. In seiner Schrift De officiis (Über die Pflichten) nennt und
erörtert er die vier Tugenden:
- Gerechtigkeit (iustitia),
- Mäßigung (temperantia),
- Tapferkeit und Hochsinn (fortitudo, magnitudo
animi bzw. virtus) und
- Weisheit oder Klugheit (sapientia bzw. prudentia).
Mittelalter
Antike
Tugendlehren schlagen sich mit der Rezeption der antiken Philosophie durch
christliche Theologen wie Ambrosius, Hieronymus,
Augustinus, Beda und Hrabanus Maurus in der Bibelauslegung nieder. Im 4. Jahrhundert verfasste Ambrosius von
Mailand eine Pflichtenlehre (De officiis ministrorum), in der
er sich mit Ciceros Auffassung auseinandersetzt. Er verwendete erstmals den
Begriff „Kardinaltugenden“ (virtutes cardinales); häufiger ist bei ihm
aber der Ausdruck „Haupttugenden“ (virtutes principales). Er übernahm
Philons Deutung der vier Paradiesflüsse als die vier Tugenden.
Eine erste
systematische Ausformung erhält die Tugendlehre im Rahmen der Morallehre
des Thomas von Aquin,
der die Kardinaltugenden als Angel bezeichnet, an der alle anderen Tugenden
befestigt sind: „Eine Tugend heißt Kardinal- bzw. Haupttugend, weil an ihr die
anderen Tugenden befestigt sind wie die Tür in der Angel.“ (Virtus aliqua
dicitur cardinalis, quasi principalis, quia super eam aliae virtutes firmantur,
sicut ostium in cardine.)
Aufklärung
Immanuel Kant lässt in Bezug zu den Sekundärtugenden nur eine Primärtugend gelten:
„Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken
möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein
guter Wille.“ Fehle dieser, können alle anderen Tugenden „auch äußerst böse und
schädlich werden“.
Der deutsche
Philosoph Johann Friedrich
Herbart nennt als Kardinaltugenden:
Moderne
Der
Philosoph Josef Pieper macht in
der Tradition von Thomas von Aquin
die folgenden christlichen Kardinaltugenden aus:
Dabei räumt
er der Klugheit den ersten Rang ein. Aus ihr heraus werden alle anderen
Tugenden geboren. Die Klugheit ist das Maß der Gerechtigkeit, der Tapferkeit
und der Mäßigung.In der orientierungslosen Nachkriegszeit fasste er diesen
christlichen Glaubensgrundsatz prägnant zusammen:
„Keinen Satz
der klassisch-christlichen Lebenslehre gibt es, der dem Ohr des heutigen
Menschen, auch des Christen, so unvertraut, ja so fremd und wunderlich klingt
wie dieser: daß die Tugend der Klugheit die Gebärerin und der Formgrund aller
übrigen Kardinalstugenden ist, der Gerechtigkeit, der Tapferkeit und der
Mäßigung: daß also nur wer klug ist, auch gerecht, tapfer und maßvoll sein
kann; und dass der gute Mensch gut ist kraft seiner Klugheit.“
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