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Sonntag, 24. April 2016

Liebet einander


 
Da hört also ein Mensch den Satz: Ich liebe dich. Und er ist nicht entzückt, nicht begeistert. Er ist beunruhigt, unsicher, reagiert mit Angst. Warum? Er beobachtet: Der andere sagt, er liebe die Blumen. Ja, wirklich, er liebt sie. Er kann sich gar nicht satt daran sehen. Er kann gar nicht genug davon haben. Immer neue Sträuße schneidet er ab, stellt sie in sein Zimmer. Dem Zimmer bekommt es gut. Auch für ihn selbst ist es gut. Für die Blumen auch?


Vielleicht ist es dumm zu fragen, ob es besser für sie sei, draußen zu verblühen oder in einer Vase. Ganz so dumm scheint die Frage beim Fisch und beim Vogel nicht. Ob nicht auch für den Fisch es besser ist zu leben als gegessen zu werden; für den Vogel frei zu fliegen statt im Käfig zu bleiben. Man ist geneigt zu sagen: es ist ihnen nicht gut bekommen, geliebt zu werden.
 
Ob es dem Menschen immer gut bekommt? Der das Gedicht schrieb, war sich da nicht ganz so sicher. Wie oft wurde der Satz schon gesagt und meinte nichts anderes als: Dich kann ich brauchen, du bist gut für mich. Oder: Du bist schön. Mit dir kann man sich sehen lassen. Meine Freunde werden mich um dich beneiden. Du bringst Glanz in mein Haus. Ich liebe dich, ich kann dich brauchen, ich kann dich benutzen.
 
Seien Sie mir nicht böse, wenn ich hinter so manche gute Tat ein Fragezeichen setze. Ich will gar nicht verkennen, dass auch viel guter Wille mit im Spiel ist. Aber wir sollten durchaus kritisch zu uns selbst sein. Es soll doch so sein, dass andere sich nicht beunruhigen müssen, wenn sie von uns den Satz hören: Ich liebe dich.

Menschen, die Jesus begegnet sind, haben diese Angst offenbar nicht gehabt. Sie wussten: er mag uns - nicht weil er uns braucht, sondern weil wir ihn brauchen. Darum kann man ihn später den ungeheuren Satz sprechen lassen: „Liebet einander, wie ich euch geliebt habe.“ Dem werden wir immer hinterherlaufen, wir alle, in allem, was wir tun. Aber es ist ja auch schon etwas gewonnen, wenn er uns beunruhigt, uns kritisch macht gegenüber uns selbst, damit nicht andere sich beunruhigen müssen, wenn sie den Satz hören: Ich liebe dich.

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