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Donnerstag, 28. April 2016

Der Beginn des Lebens

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Die Frage nach dem Beginn des Lebens ist in der gegenwärtigen Diskussion um die Bioethik
eine Schlüsselfrage. Nach dem deutschen Embryonenschutzgesetz von 1990 gilt als »Embryo ...bereits die befruchtete entwicklungsfähige Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung« (§8,1). Damit wird der Lebensbeginn punktgenau festgelegt auf einen bestimmten biologischenV organg und auf einen bestimmten Zeitpunkt. In der Interpretation der beiden großen Kirchen in Deutschland hängt an diesem Zeitpunkt aber noch viel mehr: Mit ihm beginnt nicht nur eine umfassend entwicklungsfähige, »totipotente« menschliche Zelle zu leben und sich zu entwickeln, sondern ein Mensch, ein Individuum, das mit Menschenwürde ausgestattet und dessen Leben uneingeschränkt schutzwürdig ist. Aufgrund ihres Potentials, ein Mensch zu werden, steht die befruchtete Eizelle vom ersten Moment ihrer Existenz an einem geborenen Menschen rechtlich und – aus der Sicht der Gesellschaft – ethisch gleich.

Bekanntlich ist diese Sicht und Interpretation des Lebensbeginns in den gegenwärtigen bioethischen Diskussionen und Entscheidungsvorgängen nicht unumstritten. Die folgenden Beobachtungen und Überlegungen an Texten der Bibel, vor allem des ATs, wollen einen exegetisch theologischen Beitrag leisten zur Klärung der Frage des Lebensbeginns.

Nun sind biblisch begründete Argumente in der bioethischen Diskussion nicht neu. Vor allem wird die biblische Denkfigur der »Gottebenbildlichkeit« des Menschen3 als Begründungsmetapher für die neuzeitliche Basisnorm der Menschenwürde angeführt4. Dabei wird aber kaum thematisiert, welchen Stellenwert diese Tradition im Zusammenhang der Bibel hat.

Vom Menschen als Bild Gottes ist im AT nur in der Urgeschichte und dort nur an drei Kernstellen (Gen 1,26f; 5,1; 9,6) die Rede; d.h. die Gottebenbildlichkeit ist kein Allgemeingut biblischen Denkens, sie ist im AT eine hochtheologische und hochtheoretische Spitzenaussage. Auch im NT spielt die Bezugnahme auf den schöpfungstheologischen Gedanken der Gottebenbildlichkeit
(Röm 8,29; 1Kor 11,7; 1Kor 15,48f und 2Kor 3,18) »eine allenfalls marginale Rolle«6.

Die »Gottesebenbildlichkeit« gewinnt ihr Gewicht nicht so sehr durch die Breite des biblischen Zeugnisses denn als biblisch begründbarer, systematisch-theologischer Topos. Dies gilt ähnlich auch für die »Rechtfertigungslehre«, insofern sie in der bioethischen Diskussion den sog. transzendentalen Personenbegriff begründet: Der Mensch hat die Würde einer selbstständigen Person nicht, weil er zu bestimmten Leistungen, etwa seines Bewusstseins, in der Lage ist, sondern wenn und weil er vor Gott und von Gott als ein solcher Mensch immer schon erkannt und anerkannt ist. In diesem Sinne wird die dem Propheten Jeremia geltende (und aus der altorientalischen Königsprädikation
stammende) Zusage »Noch ehe ich dich im Mutterleib bereitete, habe ich dich erkannt
...« (Jer 1,5) auf alle Menschen, ja den Menschen schlechthin ausgedehnt.

Solche Deutungen biblischer Traditionselemente haben von der christlich-theologischen Tradition her hohes Gewicht und Überzeugungskraft, die hier auch gar nicht gemindert werden sollen. Aber (und das lässt mich als Bibelwissenschaftler ein wenig unbefriedigt) sie erfassen den biblischen Befund vorwiegend an theologischen Spitzensätzen und damit sehr unvollständig.

Die Bibel, das AT zumal, redet vom Lebensbeginn nicht nur auf der Ebene theologischer
Begründungen, sondern viel konkreter, auf der Ebene der Wahrnehmung und Erfahrung alltäglicher Phänomene wie Zeugung, Schwangerschaft und Geburt.

Diese Wahrnehmungsebene wird – wie sich zeigen wird – literarisch in unterschiedlichster
Weise manifest. Einen ersten Zugang, der jeder Bibelleserin, jedem Bibelleser vertraut ist und der zugleich mitten in die Problemlage der Gegenwart führt, soll eine Szene aus den Familienerzählungen der Genesis eröffnen: Abraham sitzt in der Mittagshitze vor seinem Zelt, er hebt den Blick und sieht, wie sich drei Männer – dargestellt sind sie meist in weißen Kleidern – langsam aus dem dunstigen Horizont lösen und auf ihn zukommen. Er nimmt die Fremden gastlich auf.

Die Überraschung kommt nach Tisch. Er und Sara – so teilen ihm die drei (oder ist es nur einer?) mit – werden den lang ersehnten leiblichen Nachkommen haben, übers Jahr soll er da sein. Sara hört mit und lacht: In unserem Alter!? Doch es bleibt dabei: Übers Jahr ist der Nachkomme da.

Jitzchaq-El: »Gott lacht« ist sein voller Name. Auf geheimnisvolle Weise jenseits des Menschenmöglichen ist seine Entstehung mit den drei Männern und dem Gotteslachen der Sara verbunden (Gen 18).

Diese Erzählung und mit ihr viele andere biblische Geschichten – zu denken ist an die unfruchtbare Rebekka mit den beiden rabiaten Zwillingen in ihrem Leib (Gen 25,19ff), an die junge, aber schwer gebärende Rahel (Gen 29f), an die Mutter Simsons (Ri 13), an Hanna, die Mutter Samuels (1Sam 1), an Elisabeth und Zacharias (Luk 1,5ff) –, sie alle kreisen um ein Thema: den unerfüllten Kinderwunsch. Ihn doch noch zu erfüllen, werden alle Register gezogen, listige und schmerzhafte, natürliche und übernatürliche: der Liebeszauber (Gen 30,14), das Gelübde (1Sam 1,11), Leihmutterschaft (Gen 16) und Leihvaterschaft (Gen 38, s.u.) und eben das Wunder der göttlich verheißenen Geburt. Ihm verdankt Isaak sein Leben – und wir die Weihnachtsgeschichte. So mögen die antike Welt der Bibel und die moderne Welt der Biomedizin im Hinblick auf die Mittel und Wege meilenweit von einander entfernt sein. In ihren Grunderfahrungen,
Grundbedürfnissen und Grundkonflikten sind sie sich sehr nahe. Es ist eben nicht
Ausdruck des Machbarkeitswahns der Moderne, dass der unerfüllte Kinderwunsch eine wesentliche Triebfeder zur Herstellung von befruchteten Eizellen im Labor gewesen ist. Den bisweilen unbändigen Kinderwunsch teilen moderne Eltern mit den Erzeltern. Als ein Menschheitsbuch, das solche Erfahrungen bewahrt, reflektiert und im Licht des jüdisch-christlichen Gottesglaubens bewertet, soll nun die Bibel, zumal das AT, zu den Problemen und Konflikten befragt werden, denen sich Gesellschaft und Politik in der gegenwärtigen Entscheidungssituation gegenübersehen.

Biblische Wahrnehmungen zum Beginn des Lebens: Lebensbeginn und Lebensglück

Noch breiter belegt und ebenso aufschlussreich wie der Zugang über die Familienerzählungen ist der semantisch-lexikalische Befund, der sich von den beiden Worten und Wortfeldern erheben lässt, die in der hebräischen Bibel fundamental auf den Beginn des Leben bezogen sind.

Das weiteste und im AT am besten belegte Wortfeld gruppiert sich um die hebräische Verbalwurzel yalad, die gemeinhin mit »gebären« wiedergegeben wird. Doch schon hier ergibt sich ein überraschender Befund: Das hebräische Verbum yalad wird nicht nur für das weibliche Gebären, sondern ebenso für das männliche Zeugen wie auch für das Geborenwerden verwendet10.

Jer 16,3 macht daraus ein kunstvolles Laut- und Sinnspiel (vgl. auch Jer 29,6):
»Ja, so hat JHWH gesprochen über die Söhne und über die Töchter, die geboren wurden (hayyillodim) an diesem Ort, und über ihre Mütter, die sie gebaren (hayyoledot), und über ihre Väter, die sie zeugten (hammolidim, wörtl. etwa: die ihre Geburt veranlassten)
in diesem Lande. ...«

Es überrascht dann nicht mehr, dass auch das Wort für das »Produkt« dieses Vorgangs mit derselben Wortwurzel bezeichnet wird, nämlich als yäläd, »Kind«. An diesem sprachlichen Befund zeigt sich, dass die Hebräische Bibel den Beginn des Lebens als eine in sich kaum differenzierte Lebensphase denkt, in der Vater, Mutter und Kind in enger Gemeinschaft gesehen werden. Die väterliche Rolle beim Zeugungsakt ist so etwas wie die »Initialzündung«; zusammen mit der vorgeburtlichen Phase im Mutterleib und deren Ende, der Geburt, bildet sie ein Ganzes.

Ähnliches lässt sich am zweiten, auf den Vorgang von Zeugung, Geburt und Nachkommenschaft bezogenen Wortfeld zeigen, dem Feld um die Zentralworte »Samen«, »Säen« (zr’) und »Frucht« (pry). Dies klingt zunächst nach einem metaphorischen, an Vorgängen im Pflanzenreich orientierten Verständnis des menschlichen Lebens. Aber das hebräische Wort für Same wird unterschiedslos für Pflanzen, Tiere und Menschen gebraucht und ist m.E. in keinem dieser Bereiche metaphorisch aufzufassen.

Zunächst empfängt die Frau den männlichen Samen (Num 5,28) so wie das Land (Dtn 29,22; Ez 36,9), das mit den Samen der Feldfrüchte besät wird. Dies ist weniger androzentrisch oder sexistisch gedacht, als es für unsere heutigen Ohren vielleicht
klingt, zumal die altägyptische Vorstellung, der männliche Same sei bereits der Mensch in nuce, der im Mutterleib wie in einer Nährlösung nur bis zur Geburtsreife heranwächst, im AT so nicht geteilt wird.

Vielmehr ist die Rolle von Mann und Frau gleichwertig und gewissermaßen kooperativ
gedacht. Im erotischen Spiel erweckt die Frau den Samen des Mannes zum Leben, so
die Töchter Lots nach Gen 19,32.34. In der spätatl. Schrift der Weisheit Salomos findet sich die Vorstellung, dass die Lust des Beischlafs das Kind mit zustande bringt (Sap 7,2).

Dieser gleichwertigen Rollenverteilung von Mann und Frau in der Zeugung entspricht es,
dass die aus dem Säen und dem Empfangen hervorgehende »Frucht« sowohl als eine solche des väterlichen (vgl. Mi 6,7) wie des mütterlichen Leibes (Gen 30,2; so auch im Gruß der Elisabeth an die schwangere Maria, Luk 1,42: »gebenedeit ist die Frucht deines Leibes«) gesehen wird.

Und schließlich können der Begriff »Same« wie auch die Wortverbindungen mit »Frucht« Inbegriff für die Nachkommenschaft selbst sein. Der »Same Abrahams« beispielsweise sind die aus Abraham hervorgegangenen Nachkommen (vgl. etwa Jes 41,8; Jer 33,26).
Säen, Samen und Frucht sind in unserem Zusammenhang also nicht metaphorisch gemeint.
»Frucht« des menschlichen Leibes, die menschliche Nachkommenschaft, ist neben den pflanzlichen Früchten und dem tierischen Nachwuchs Teil, ja Inbegriff des göttlichen Segens für das Land und seine Bewohner: »Und JHWH wird dir Überfluss geben an Gutem (oder auch: an Glück) - an der Frucht deines Leibes und an der Frucht deines Viehs und an der Frucht deines Ackerlandes - auf dem Land, das dir zu geben JHWH deinen Vätern geschworen hat« (Dtn 28,11).

So ist jeder Beginn eines menschlichen individuellen Lebens Teil einer Ernte, die die Lebensressourcen, das Lebensglück der Familien und der sie tragenden größeren Gruppen sichert und mehrt. Die gewählte Sprache und Bilderwelt machen wahrscheinlich, dass diese Sicht des Lebens aus einer agrarisch bestimmten Kultur hervorgeht.

Der anthropologische Gehalt dieser Anschauung des AT über den Beginn des Lebens lässt
sich auf zwei Komponenten reduzieren: 1. Im Sinne einer elementaren Humanbiologie, über die selbstverständlich auch schon die Menschen des Alten Israel verfügten, ist der Beginn des Lebens die durch Zeugung eingeleitete, vorgeburtliche Existenz des Menschen im Mutterleib. Schon am Beginn des Lebens wird dessen gemeinschaftlicher, sozialer Bezug deutlich. Dieser Bezug realisiert sich erstmals in der elterlichen Zeugung, sie findet ihren Ausdruck im Verständnis des Kindes als elterlicher Leibesfrucht. Leben, das menschliche wie jedes andere, lebt, um zu leben und Leben zu ermöglichen. Diese Zwecksetzung des Lebens14 wurde im AT – soweit ich sehe – niemals als Gegensatz zu dem gesehen, was wir Menschenwürde nennen, wie nun gleich zu zeigen sein wird.

Lebensbeginn und Ichbewusstsein

Die Bibel, das AT zumal, ist kein durchgegliedertes Gesetzeswerk und kein systematischer Traktat, sondern vielfältig wie das Leben selbst. Es ist also nicht verwunderlich, dass in ihr dieselbe Sache aus ganz unterschiedlichen, auch entgegengesetzten Blickwinkeln gesehen werden kann.

Einen solchen – im Vergleich zum Vorhergehenden – ganz anderen Blickwinkel auf den Beginn des Lebens eröffnen uns Ps 139 und Ijob 1015. Beide Texte sind Gebete. In ihnen sprechen Erwachsene zu Gott, beide Beter befinden sich in der Grenzerfahrung der Todesnähe. Der Psalmist sieht sich von Feinden verfolgt bis aufs Blut (Ps 139,19), und Ijob meint sich von Gott selbst an den Rand seiner Existenz gebracht. Von dieser Grenze gehen die Gedanken der Beter zurück an die andere Grenze ihrer Existenz: den Beginn des Lebens, in den Mutterleib. Und eben von dort her begreifen sie sich als »Ich«, als individuelle menschliche Wesen.

Ich beginne mit Ps 139,13-16 : »Ja, du bildetest meine Nieren. Du wobst mich in meiner Mutter Leib. Ich preise dich darüber,dass ich auf eine erstaunliche, ausgezeichnete Weise gemacht bin. Wunderbar sind deine Werke,und meine Seele erkennt es sehr wohl.

Nicht verborgen war mein Gebein vor dir, als ich gemacht wurde im Verborgenen,
gewoben in den Tiefen der Erde. Meinen Embryo (hebr: golmi > goläm, ›das Ungeformte‹) sahen deine Augen. Und in dein Buch sind sie alle eingeschrieben: die Tage, die (einst) gebildet werden, und von denen (jetzt noch) nicht einer ist.«

Die Vorstellungen des Textes von der vorgeburtlichen Existenz des Menschen setzen sich aus einer – aus der Sicht des heutigen Wissens – rudimentären Biologie einerseits sowie theologischen Elementen andererseits zusammen, sie bilden gewissermaßen eine Biotheologie.

Ansatzweise biologisch ist die Anschauung vom »Goläm«; sie ist nur hier in der hebräischen Bibel belegt. Der griechischen Bibel und Parallelbegriffen aus anderen semitischen Sprachen nach zu schließen bedeutet das Wort das »Ungeformte«. Dahinter steht eine – wie auch immer erlangte – konkrete Anschauung des menschlichen Embryos in einem sehr frühen Stadium.

Das Bild vom Weben Gottes im Mutterleib ist hingegen theologisch, nicht biologisch gemeint. In gemeinantiker Tradition ist Weben eine der typisch weiblichen Handlungsrollen und wird oft mit Zeugung und Geburt verbunden. Als Schöpfer des Individuums nimmt einerseits Gott die weibliche Handlungsrolle an und wird gewissermaßen Frau, während andererseits die Schwangere für den göttlichen Schöpfer handelnd den ungeformten Goläm zu einem kunstvoll strukturierten Ganzen, eben dem Menschen, heranbildet.

Der zweite Text aus dem Buch Hiob entfaltet seine Biotheologie mehr von männlichen Handlungsrollen und von der Zeugungsbiologie des Mannes her: »Deine Hände haben mich ganz gebildet und gestaltet um und um, und [nun] verschlingst du mich! Bedenke doch, dass du mich wie Ton gestaltet hast! Und [jetzt] willst du mich zum Staub zurückkehren lassen! Hast du mich nicht hingegossen wie Milch und wie Käse mich gerinnen lassen?

Mit Haut und Fleisch hast du mich bekleidet und mit Knochen und Sehnen mich durchwoben. Leben und Huld hast du mir gewährt, und deine Obhut bewahrte meinen Geist« (Hiob 10,8-12). Zunächst spielt Hiob, Beter und Gottesrebell, auf die Erzählung von der allgemeinen, urzeitlichen Menschenschöpfung in Gen 2 und 3 (»aus Ton« Gen 2,7 - »zu Staub« Gen 3,19) an. Dabei ist Gott in der Rolle des Töpfers. Eine zweite Reihe von Vorstellungen beginnt mit einer milchähnlichen Flüssigkeit, dem männlichen Samen, der zu einer leidlich festen Masse gerinnt und mit Haut und Fleisch gleichsam bekleidet wird. In diesen Protoplasten werden dann Knochen und Sehnen eingewoben. Grundsätzlich wie der Psalmist sieht Hiob die vorgeburtlichen Vorgänge im Mutterleib biologisch als eine fortschreitende Strukturierung und Festigung. Der Text reproduziert hier, in einer eigenständigen Mischung, Vorstellungselemente, die in ägyptischen und indischen Texten ebenso anzutreffen sind wie bei Plinius oder im Qur’an.

In der Sicht dieser Gebete ist der Mutterleib jener Ort, an dem aus den stofflichen Substraten des Lebensbeginns das Ich wird, als das die Beter nun sprechen. Dies ist ein zugleich natürlicher und übernatürlicher Vorgang. Er bringt die Individualität der Beter durch ein geheimnisvolles, wunderbares Wirken Gottes hervor, das dem physisch-stofflichen Vorgang unterlegt ist.

Der Lebensbeginn ist – so stellt es sich aus biblischer Sicht dar und so wollen wir das bisher Gesagte zusammenfassen – ein dreidimensionales Geschehen:

1. Der Mensch geht aus der intimen Gemeinschaft der Eltern hervor, wächst im Mutterleib heran und bringt sein Leben in die größere Gemeinschaft der Familien und Sippen ein. In dieser Gemeinschaft ist er von seiner Zeugung an aufgehoben (soziale Dimension).
2. Der Lebensbeginn ist an stoffliche, wir würden sagen: »natürliche« Substrate gebunden, den Samen und den Mutterleib. In dieser stofflichen Umgebung und aus ihr heraus wird der Mensch, wie es gelegentlich in einer durchaus technischen Metapher (vgl. Dtn 25,9) heißen kann, »gebaut« (biologische Dimension).
3. Der Mutterleib ist schließlich auch der diskrete Ort, an dem durch göttliches Wirken, jedenfalls aber auf wunderbare und unverfügbare Weise das Individuum, die Person gebildet wird, die später zu sich selbst »Ich« zu sagen vermag (»schöpfungstheologische« Dimension). In allen drei Dimensionen ist der Lebensbeginn kein isolierbarer Augenblick, kein Zeitpunkt, sondern eine Lebensphase, ein Prozess, in dem der Mensch biologisch Gestalt gewinnt, sich über seine Eltern einem sozialen Kontext einstiftet und – in der Rückschau des Erwachsenen – durch Gottes Schöpferhand seine Personalität und Individualität, seine Würde, empfängt.

Störungen und Grenzfälle

Selbstverständlich weiß auch das AT, dass dieses Geschehen und Gefüge empfindlich gestört sein kann, dass es dabei – in unterschiedlichen Richtungen – Grenzbereiche und Grenzfälle geben kann, bisweilen geben muss. Auf zwei solcher Stör- und Grenzfälle ist hier einzugehen.

Der erste Fall dreht sich um den Juda-Sohn »Onan«. Wir sind in der Erzählung von Gen 38
mitten in einer tragisch zu nennenden Familiengeschichte. Von zwei verheirateten Brüdern namens Er und Onan stirbt der Erstgenannte. Dessen Frau Tamar bleibt kinderlos zurück. Von Onan wird nun erwartet, Tamar zu schwängern (nicht etwa: sie zu ehelichen).

Die aus dieser Verbindung hervorgehenden Kinder gelten dann als Kinder des Verstorbenen und seiner Witwe. Diese etwas missverständlich »Leviratsehe« genannte Institution ist – in heutigen Worten gesagt – eine Art Leihvaterschaft, die anzutreten sich besagter Onan weigert: »Da aber Onan wusste, dass die Nachkommen (wörtl. der Same) nicht ihm gehören würden, geschah es, wenn er zu der Frau seines Bruders einging, dass er [den Samen] auf die Erde [fallen und] verderben ließ, um seinem Bruder keine Nachkommen zu geben. Und es war böse in den Augen JHWHs, was er tat; so ließ er auch ihn sterben« (Gen 38,9f).

JHWH bestraft diese Handlungsweise Onans so hart, nicht etwa weil dieser mit seinem wiederholten coitus interruptus einen sexuellen Tabubruch begangen hat, sondern weil er der Familie seines Bruders (und nicht zuletzt: der Frau) die Nachkommenschaft, also Same und Leibesfrucht und die damit verbundene erbrechtliche Sicherung aus Eigennutz verweigert.

Die Pointe der Onanepisode ist sozialethisch. Sie unterstreicht, dass menschliches Leben von seinem Beginn an keinen ihm fremden Zwecken unterworfen werden darf, vor allem nicht den Kosten-Nutzen-Rechnungen Einzelner.

Der zweite Grenz- und Störungsfall betrifft die Frage, ob innerhalb der vorgeburtlichen Phase Stadien minderer oder höherer Lebensintensität zu unterscheiden sind. Dass es dazu in atl. Zeit Überlegungen gegeben hat, zeigt der Musterrechtsfall nach Ex 21,22ff24, für den es auch im altorientalischen Recht Parallelen gibt:

»Wenn Männer sich raufen und [dabei] eine schwangere Frau stoßen, so dass ihre Kinder
(oder auch: ihre Leibesfrucht) abgeht, aber kein ernster (tödlicher) Schade entsteht, so muss dem Schuldigen eine Geldbuße auferlegt werden, je nachdem, [wie viel] ihm der Eheherr der Frau auferlegt, und er soll nach dem Ermessen von Schiedsrichtern geben. Falls aber ein ernster (tödlicher) Schade entsteht, so sollst du geben Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Wunde um Wunde, Strieme um Strieme« (Ex. 21,22-25).

Der Fall ist in dieser Form nur in groben Umrissen klar und kann infolgedessen unterschiedlich gedeutet werden. Die mir wahrscheinlichste Deutung ist die folgende: Es geht um eine Verletzung, die eine schwangere Frau durch »raufende« Männer erleidet und die zum Abgang ihrer Kinder (yldm25) führt. Dabei wird unterschieden zwischen einem minder schweren und einem schweren Unterfall. Ersterer rechnet mit dem Abgang des Kindes / der Kinder, wahrscheinlich eines lebensunfähigen Fötus. Dieser Fall wird als Schadensfall behandelt und im Streitschlichtungsverfahren durch Zahlung einer Buße beigelegt. Im zweiten, gravierenderen Fall kommt es zum Abgang und zu einer schweren, vielleicht tödlichen Verletzung der Frau und/oder eines lebensfähigen Fötus. Deren Tod zieht die Todessanktion für den Verursacher nach sich.

Soweit eine mögliche Deutung des Falles. Was besagt er für unseren Zusammenhang? Er
lässt erkennen, dass der Fötus als ein Rechtssubjekt behandelt werden kann, das dem erwachsenen Menschen rechtlich nicht gleich steht. Das bedeutet aber keineswegs, dass – wie man bisweilen liest – das ungeborene Leben keine eigene Rechtsstellung hätte.

Es bedeutet allerdings, dass in einem Grenzfall, bei dem das Leben eines ausgewachsenen Menschen gegen das fahrlässig beendete Leben eines Fötus auf dem Spiel steht, zugunsten des Ersteren entschieden wird. In der Folgezeit hat dieser biblische Rechtsfall weitergehende Deutungen gefunden. Für uns besonders aufschlussreich ist die Deutung, die der Fall in der griechischen Übersetzung des AT, der Septuaginta, erfahren hat. Die Septuaginta bezieht die Verletzung in beiden Unterfällen nicht auf die schwangere Frau, sondern auf den Fötus bzw. das Kind und nimmt für den leichteren Fall ein noch ungeformtes, »unausgebildetes Kind«, im zweiten schweren Fall ein »ausgebildetes, als
Mensch erkennbares Kind an. Auch die Septuaginta sieht den einen Fall als einen der Schlichtung und Ersatzleistung zugänglichen Fall an, den anderen als Fall für die Todessanktion.

Beide Versionen dieses Rechtsfalles machen deutlich, dass es Störungen und Grenzfälle geben kann, in denen sich die Gemeinschaft gezwungen sieht, das werdende Leben entweder in sich oder gegenüber dem geborenen Leben rechtlich differenziert zu sehen und in seinem Rechtsstatus unterschiedlich zu würdigen. Allerdings ist – und das muss unterstrichen werden – im AT kein Fall überliefert, der einen Eingriff in das Lebensrecht des vorgeburtlichen Lebens zulässt.

Folgerungen

Was ergibt sich aus diesen Beobachtungen für die Frage nach dem Beginn des menschlichen Lebens im modernen Kontext? Festzuhalten ist m.E. zunächst: In biblisch-atl. Sicht ist der Beginn des Lebens ist nicht auf den Akt und den Zeitpunkt der Zeugung, nicht in vivo, im Körper der Frau und noch weniger in vitro, im Labor, einschränkbar. Aus biblischer Sicht braucht es die Intimität, die Diskretion des Mutterleibes, den sozialen Kontext der werdenden Eltern und der Familie, in dem der Same zur Frucht reifen kann und in dem das schöpfungstheologische Geheimnis der Personwerdung Raum zur Entfaltung hat. Der Lebensbeginn wird so als ein prozessuales und vor allem multidimensionales Geschehen begriffen, das nach biblischer – und übrigens
auch nach moderner jüdischer – Anschauung seinen Ort und seine Zeit im Mutterleib sowie den ihn umgebenden sozialen und – wenn der Ausdruck gestattet ist – metaphysischen Bezügen hat.

Der erste der beiden besprochenen Grenzfälle zeigt, dass in atl. biblischer Sicht das Leben
– und zwar auch das potentielle Leben – vor eigenmächtigen und vor allem eigensüchtigen
Übergriffen zu schützen ist. Die These von der vollen Menschwerdung im Moment und durch Akt der Zeugung, genauer gesagt: der »Fertilisation« allein, leidet m.E. an einer Überbetonung der biologischen Dimension des Lebensbeginns. Wenn diese These mit der vollständigen genetischen Ausstattung des Embryos begründet wird, scheint sie mir geradezu biologistisch. Auf die Möglichkeiten der modernen Biomedizin bezogen, erkennen die Vertreter dieser These – vermutlich gegen ihre Intention – an, dass Menschen nun wirklich Menschen machen. Dies aber ist ganz gewiss eine göttliche Prärogative (Gen 1,16ff; Ps 8,4f).

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