Translate

Montag, 17. Juni 2019

Vergebliche digitale Träume




Der Begriff Digitale Revolution bezeichnet den durch Digitaltechnik und Computer ausgelösten Umbruch, der seit Ausgang des 20. Jahrhunderts einen Wandel nahezu aller Lebensbereiche bewirkt und der in eine Digitale Welt führt, ähnlich wie die industrielle Revolution 200 Jahre zuvor in die Industriegesellschaft führte. Deshalb ist auch von einer dritten industriellen Revolution die Rede oder in technischer Hinsicht von mikroelektronischer Revolution.

Die mit der Digitalen Revolution einhergehenden Veränderungen in Wirtschafts- und Arbeitswelt, in Öffentlichkeit und Privatleben vollziehen sich in großer Geschwindigkeit überall dort, wo die materiellen Voraussetzungen für Anwendungs- und Nutzungsmöglichkeiten der fortschreitenden Digitalisierung bestehen. Neue Medien beeinflussen zunehmend KommunikationsverhaltenSozialisationsprozesse und Sprachkultur. Anwendungsbereiche und Entwicklungspotenziale von künstlicher Intelligenz gehören zu den Trends und offenen Zukunftsfragen der Digitalen Revolution
Weitgehend unstrittig ist heute die Verwendung des Revolutionsbegriffs für gravierende Kontinuitätsbrüche, die nicht nur Technik und Wirtschaft berühren, sondern alle Lebensbereiche umwälzen, wie das schon Friedrich Engels für die industrielle Revolution formulierte: eine „Revolution, die zugleich die ganze bürgerliche Gesellschaft umwandelte“. Doch während die industrielle Revolution heute im Wesentlichen durch eine lange Periode außergewöhnlichen wirtschaftlichen Wachstums definiert wird, gingen die Wachstumsraten in wichtigen OECD-Ländern und weltweit seit den 1970er Jahren und verstärkt seit 1995 zurück.
Wenn man als Revolutionstreiber die weitreichenden informationstechnologischen Durchbrüche im Vorfeld und zu Beginn des 21. Jahrhunderts ansieht, wie das Manuel Castells mit seinem Begriff des informationellen Kapitalismus und viele andere tun, stellt sich die Frage, warum sich diese Revolution ausgerechnet in einer Phase stagnierender und sinkender Wachstumsraten abgespielt haben soll bzw. noch abspielt. Darauf gibt es verschiedene Antworten: Zum einen kann die Digitale Revolution in der Produktionstechnik als Versuch verstanden werden, angesichts gesättigter Massenmärkte und hoher Rohstoff- und Energiekosten (Ölpreiskrisen 1973 und 1979/80) sowie sinkender Kapitalrenditen auch in Hochlohnländern flexibler, kundenorientierter, material- und energieeffizienter und damit arbeits- und kapitalsparend zu produzieren (v. a. durch Ersetzung von mechanischer und analoger Technik mittels digitaler Technik, durch Miniaturisierung und Integration von Bauteilen, durch einen steigenden Informations- und einen sinkenden Rohstoffanteil in den Produkten usw.) und gleichzeitig rascher auf neue Bedürfnisse zu reagieren. Das ist durchaus mit einer sinkenden Investitionsquote vereinbar: Weltweit sank diese bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt von etwa 23–25 % in den 1970er Jahren auf unter 20 % nach 2008, was dennoch zu höheren Unternehmensprofiten führte.
Zum anderen werden viele Leistungen der digitalen Wirtschaft nicht vollständig in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung abgebildet, u. a. die Arbeit der Kunden, die bei der Leistungserstellung immer stärker kostenlos mitwirken (z. B. bei einer Flugbuchung, bei Umfragen oder bei der Konfiguration von Produkten). Hinzu kommen die sinkenden Distributionskosten für digitale Produkte über Netze, die tendenziell gegen Null gehen. Alle diese Faktoren tragen zur Erhöhung der Unternehmensgewinne trotz relativ sinkender Wachstumsraten bei. Auch der (Gratis-)Nutzen der von privaten Akteuren preisgegebenen Informationen und von ihnen erstellten Wissensbasen im Netz (z. B. der Nutzen Wikipedia) wird in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nicht abgebildet.
Drittens berührt die Digitale Revolution – anders als die industrielle Revolution mit ihren langfristigen Auswirkungen auf Städtebau, Hygiene, Arbeitsschutz usw. – die Gesundheit und Lebenserwartung der Menschen bisher kaum in direkter Form; sie ist auch mit einer stagnierenden oder schrumpfenden Bevölkerungsentwicklung und in deren Folge mit demographisch bedingten geringeren wirtschaftlichen Wachstumsraten vereinbar (z. B. mit einer langjährigen Dauerstagnation in Japan trotz fortschreitender Digitalisierung).
Schließlich werden durch die Substitutionskonkurrenz der digitalen Branchen traditionelle Branchenstrukturen und vor allem viele nur lokal operierende Unternehmen zerstört; deren Umsätze gehen schneller verloren als in den neuen Branchen Umsatz und vor allem Gewinn generiert wird. Wichtige Akteure dieser Entwicklung sind vor allem rasch expandiere Born Globals, die durch das Internet die Möglichkeit haben, ihre Aktivitäten und Marktanteile auch ohne internationale Niederlassungen global auszuweiten und so Investitionsrisiken, Mobilitäts- und Vertriebskosten zu senken.


All das entspricht durchaus dem Schumpeterschen Modell einer schöpferischen Zerstörung, führt jedoch nicht mehr zwingend zu messbarem volkswirtschaftlichen Wachstum, sondern vor allem zu massiven Strukturverschiebungen, die in ihrer Reichweite vermutlich mit dem Übergang von der agrarischen zur industriellen Gesellschaft vergleichbar sind. Zugespitzt kann man sagen, dass die Digitale Revolution dazu führt, dass aufgrund einer zunehmenden Entmaterialisierung der Produktion und vor allem von Dienstleistungen Unternehmensgewinne auch ohne gesamtwirtschaftliches Wachstum steigen können. Sie wirkt also dem von Karl Marx angenommenen Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate entgegen und führt weiterhin dazu, dass die Lohnquote seit Mitte der 1980er Jahre sinkt, da durch Verbilligung der Investitionsgüter die Schwellen für die Ersetzung von Arbeitskraft durch digitale Technologie gesunken sind. Eine Aufteilungsquote von 70 % Lohneinkommen zu 30 % Kapitaleinkommen war viele Jahre lang bis in die 1970er Jahre konstant. John Maynard Keynes sprach in diesem Zusammenhang von einem „ökonomischen Wunder“. Diese Aufteilungsregel gilt heute nicht mehr: Derzeit (2015) beträgt die weltweite Lohnquote nur noch 58 %, was begleitet ist von einer Schwächung der Angebotsposition der Arbeitnehmer.[7] Ein Gesamtbild muss jedoch alle Sektoren der Gesellschaft in den Blick nehmen und fragen, wie deren Entwicklung mit der Digitalen Revolution verknüpft ist. 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts