Translate

Montag, 16. Januar 2017

Bildung und freier Glaube



Braucht Bildung Glauben? 

1. Braucht Bildung Glauben? Darüber lässt sich trefflich streiten. Die Beziehung zwischen Bildung und Glauben kann unterschiedlich bestimmt werden. Keinem Verständnis dieser Beziehung kommt ein Alleinvertretungsanspruch zu.  

2. Bildung ist − im Horizont sinnstiftender Lebensdeutung − ein komplexer Prozess von Lernen, Wissen, Können, Verstehen und Anwenden. Er zielt auf die Entwicklung einer Persönlichkeit, die zur Selbsterkenntnis und Selbstkritik befähigt ist und sich verstehend und gestaltend der Mitwelt zuwendet. 

3. Vertrauen und Gewissheit sind Kernelemente eines jeden "Glaubens". An Gott glauben meint ganz wörtlich: "sich verlassen", alle menschengemachten Sicherheiten hinter sich lassen, auch den Verheißungen der aufgeklärten Vernunft niemals bedingungslos vertrauen.  

4. Der Akt des Glaubens an Gott ist ein Wagnis. Aber wer das Wagnis des Glaubens eingeht, gewinnt Gewissheiten, die das Leben zu tragen vermögen und dem Prozess der Bildung ein festes Fundament geben. 
Insofern gilt: Bildung braucht Glauben. Der Glaube tut der Bildung gut. 

5. Menschliches Leben und Menschsein lassen sich erst verstehen, wenn sie in ihrem Gottesbezug wahrgenommen werden. Dem Menschen ist es eigen, über sich und über die vorfindliche Welt hinaus zu fragen. Diese Frage lässt sich nicht still legen.  

6. Christlicher Glaube versteht die Welt und den Menschen als Schöpfung Gottes. Der Mensch ist als Geschöpf Gottes berufen zur Selbstverantwortung wie zur Verantwortung vor seinen Mitmenschen und vor Gott. Das evangelisch-christliche Bildungshandeln zielt auf die Stärkung verantwortungsbewusster Mündigkeit. 

7. Im Gedanken von der »Rechtfertigung« des Menschen »allein aus Gottes Gnade« und »allein vermittels des Glaubens« wird zwischen dem Menschen als »Person« und seinen »Werken« ebenso radikal wie heilsam unterschieden. So kann der Mensch seine Begrenzungen akzeptieren, das Fragmentarische seiner Existenz annehmen und beides als Raum seiner Freiheit verstehen. 

8. Nicht jeder Glaube tut der Bildung gut. Es gibt religiöse und quasi-religiöse Überzeugungen, die der Bildung als Befähigung zu Selbsterkenntnis und Selbstkritik im Wege stehen. Im Umgang mit solchen Überzeugungen bedarf es der Kraft zur kritischen Unterscheidung. Somit gilt auch umgekehrt: Glaube braucht Bildung. 

9. Die theologische Grundunterscheidung ist die zwischen Gott und Mensch.  „Wir sollen Menschen und nicht Gott sein. Das ist die Summa!“ (Martin Luther)  

10. Die lebenslange Einübung dieser Grundunterscheidung macht den Glauben gebildet. Bildung ist Wurzel so gut wie Frucht des Glaubens. 

Hannover, den 2. Juni 2010    
Präses Nikolaus Schneider        
Vorsitzender des Rates der EKD

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts